zusammengefasst nach A. Alston: A Shankara Sourcebook in 6 Volumes, London, Shanti Sadan, 2004
Die Definition des Absoluten als „Realität, Wissen, Unendlichkeit“ (satyam, jnanam, anantam)
Shankaras Lehre war vor allem ein Weg der Verneinung, wie in den vorhergehenden Kapiteln deutlich wurde, die auch gezeigt haben, dass es letztendlich eine Lehre der Transzendenz ist. Aber der Pfad, der mit Transzendenz endet, beginnt mit Affirmation (Bejahung). Die Texte Shankaras, die mit der initialen Affirmation beginnen, können in zwei Teile geteilt werden, die sich in den von ihm kommentierten Upanishaden widerspiegelt: Dieses Kapitel beschäftigt sich vor allem mit Affirmationen, denen zufolge unsere Erfahrungen in dieser Welt einen positiven Grund implizieren, der hinter der Welt-Erscheinung als ihre Basis liegt. In einem weiteren Teil argumentiert Shankara stärker teleologisch und weist auf die Notwendigkeit eines persönlichen Gottes als Schöpfer und Kontrolleur der phänomenalen Welt hin, in der wir leben.
Die vorherigen Kapitel beschäftigten sich vorwiegend mit dem Prozess, der von metaphysischer Erforschung zu direkter mystischer Erfahrung führt. Die nun folgenden behandeln das Absolute als ein unpersönliches Prinzip und Objekt metaphysischer Erforschung. Unter dem höchsten Standpunkt jedoch wird die Existenz der Welt und ihrer Objekte verneint.
Ausgehend von der Tatsache, dass wir in einer Welt der Begrenzung, der Veränderung und des Leidens zu leben scheinen, argumentieren die nun folgenden Textpassagen, dass bereits diese Erfahrung einen unpersönlichen Grund beinhaltet, der nicht durch Begrenztheit, Veränderung oder Leiden charakterisiert ist. Vom Standpunkt der weltlichen Erfahrung her, in der wir leben, kann dieses selbe Sein mit Persönlichkeit ausgestattet sein und als ein göttlicher Magier angesehen werden, der das Universum projiziert und kontrolliert, indem er es von innen her beseelt und darüber waltet.
Shankaras praktischer Weg beabsichtigt Schritt für Schritt die Beseitigung jeglicher Dualität in der Erfahrung des Schülers.
Metaphysische Analyse sucht nach der „Realität“ als dem (aus sich) selbst existierenden Prinzip, dass vom Standpunkt des Nichtwissens aus als erste Ursache erscheint. Sie sucht nacht dem „Wissen“ (knowledge) als dem innewohnenden unveränderlichen Zeugen, der im menschlichen Geist gegenwärtig ist und ihn mit seinem unveränderlichen Licht erleuchtet, während vorüberziehende Bilder kommen und gehen. Und sie sucht nach „Unendlichkeit“ als dem Prinzip des Glückseligkeit oder der Seligkeit, in dem es keine Teilung, Trennung, Dualität, Begrenzung oder Leid gibt.
Dies Kapitel wird daher von der Suche nach dem Absoluten als der ersten Ursache, als dem selbstleuchtenden Prinzip in der menschlichen Persönlichkeit und als das Prinzip der Unendlichkeit oder Seligkeit handeln. Shankara spricht in seiner ursprünglichen Definition von „Unendlichkeit“ statt von Seligkeit, wie die späteren berühmten Advaitischen Definitionen, die in dieser Weise zum ersten Mal bei seinem direkten Schüler Sureswara auftaucht.
Diese Art der Definition bezweckt lediglich, das definierte Objekt von allem anderen zu unterscheiden, nicht jedoch, ihm zugleich auch Attribute zuzusprechen. Lediglich die spezifische Differenz zu allem anderen ist leitend in Shankaras Definition des Absoluten. „Realität“, „Wissen“ und „Unendlichkeit“ kennzeichnen die Natur des Absoluten, dürfen aber nicht als Attributionen von Wesenseigenschaften aufgefaßt werden, da nach Shankara das Absolute nicht durch Worte zu charakterisieren ist. Ihre einzige Funktion ist es, den Geist von allem anderen auszuschließen.
Shankara fragt zu Beginn, was normalerweise mit dem Begriff „Realität“ gemeint ist. Wenn etwas eine bestimmte Form hat und diese Form das Objekt immer begleitet, dann liegt Realität vor. Wenn man andererseits findet, dass etwas eine Form hat und später ermittelt, dass es eine andere Form hat, dann haben wir es mit Unwirklichkeit zu tun. Das Kriterium für Realität ist Unveränderlichkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alle Modifikationen sind unwirklich, unreal. All die verschiedenen Modifikationen des Seins haben einen Anfang und ein Ende, aber das Sein selbst macht weder Geburt noch Zerstörung durch, ebenso wie ein Teller aus Ton und eine Vase aus Ton nichts als die eine Substanz Ton sind.
Die Absicht des folgenden Textes aus dem Taittiriya Upanishad, das Absolute als „Realität“ zu „charakterisieren“, ist daher eine negative des Ausschließens all seiner scheinbaren Modifikationen. Hier innehaltend blieben wir mit einem Absoluten zurück, das das die materielle Ursache der Welt der Wirkungen oder Modifikationen konstituieren würde, so wie Ton die materielle Ursache der verschiedenen Objekte ist, die aus ihm geformt werden. Da man unter einem materiellen Grund jedoch üblicherweise einen reinen Faktor in einem kausalen Prozess und eine unbewusste Substanz versteht, fügt das Taittiriya Upanishad weitere „Charakteristiken“ hinzu und nennt zuerst „Wissen“ (knowledge) und dann „Unendlichkeit“. Obwohl jeder dieser Begriffe, richtig verstanden, die ganze Natur des Absoluten anzeigt, und deshalb Synonyme darstellen, qualifizieren sie einander trotzdem hinsichtlich der Bedeutungen, die sie uns vermitteln.
Wenn das Absolute „Wissen“ ist, kann es nicht in demselben Sinne eine materielle Ursache sein wie die materiellen Ursachen, die wir in der Welt beobachten, die allesamt Objekte unseres Wissens sind und daher nicht selbst Wissen. In der gleichen Weise kann, wenn das Absolute „Realität“ und „Unendlichkeit“ ist, es nicht „Wissen“ im Sinne eines einzelnen Erkenntnisaktes oder irgendeines Faktors eines solchen sein, so wie in dem Konzept des wissenden Subjektes als dem Handelnden im Wissensvollzug. Was unendlich ist, kann keiner Unterteilung unterliegen, wohingegen ein Akt des Wissens eine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt voraussetzt. Wenn also das Absolute als „Wissen“ charakterisiert wird und dann noch „Wirklichkeit“ und „Unendlichkeit“ genannt wird, so sollte dies „Wissen“ verstanden werden als das nicht aktive Bewusstsein („Zeuge sein“), das hinter dem empirischen Wissen als sein Licht und Stütze liegt und das identisch mit dem Sein ist.
In der hier vorliegenden Art der Definition des Absoluten bedingt jeder der drei Begriffe die anderen derart, dass sie, während sie ihre Fähigkeit behalten, das Absolute indirekt zu kennzeichnen, ihre Fähigkeit verlieren, das Absolute in irgendeiner Weise zu charakterisieren, die es begrenzen könnte.
In diesem Zusammenhang zieht Shankara eine gewisse Trennlinie zwischen dem Wort „Unendlichkeit“ auf der einen und den Begriffen „Realität“ und „Wissen“ auf der anderen Seite. Ersteres verneint lediglich Endlichkeit, während letztere formal gesprochen das Absolute positiv charakterisieren. Dennoch stellt sich anschließend heraus, dass auch diese, indem sie die Existenz des Absoluten bestärken, es lediglich in dem Sinne charakterisieren können, den Geist von ihren eigenen Widersprüchlichkeiten auszuschließen. Shankara sagt daher, dass die Begriffe „Wissen“ und „Wirklichkeit“ beide Charakterisierungen des Absoluten „sind“ und „nicht sind“. Sie sind Charakterisierungen im Sinne, sie mit dem zu identifizieren, was sich in unserer eigenen Erfahrung als Sein und Wissen bestätigt, was nicht als Objekt gewusst werden und dennoch nicht verneint werden kann.
Daher müssen also die drei Begriffe „Realität, Wissen, Unendlichkeit“ jeder als definierende Charakteristiken aufgefasst werden. Sie sind nicht nur bloße Negationen, denn dann würden sie das Absolute zu einer bedeutungslosen Nicht-Entität wie den Sohn einer unfruchtbaren Frau reduzieren. Indem sie allerdings in unmittelbarer Nachbarschaft miteinander stehen, bestimmen sie sich wechselseitig. Sie negieren jedes den Part der Bedeutung des anderen, der ihrer eigenen Bedeutung widerspricht. Sie zeigen, zusammen genommen, dass das Absolute jenseits der Bedeutung eines jeden der drei Begriffe ist, wie sie im alltäglichen Leben verstanden werden. Wenn jedoch jeder von ihnen als modifiziert durch die Nachbarschaft zu den anderen aufgefasst wird, so bezieht er sich dennoch darauf und kennzeichnet seine Natur in negativer Weise, indem er das Absolute von dem abhebt, was es nicht ist. Es ist das, was nicht unwirklich, nicht nicht-bewusst und nicht endlich ist, und das ist alles, was wir darüber sagen können. Es kann nicht in der Bedeutung eines Satzes enthalten sein. Es kann durch eine Definition angedeutet, jedoch nicht als eine Substanz mit dieser oder jener besonderen Qualität charakterisiert werden. Der Gedanke hinter der Definition ist: „Wenn der Forschende sich aus allen falschen Vorstellungen zurückziehen kann, die nicht-wirklich, nicht-bewusst und endlich sind, wird er letztendlich dahin kommen, im Selbst zu ruhen. Dies ist jedoch keine bloß intellektuelle Operation. Die Disziplin und Führung des Lehrers wird normalerweise erforderlich sein.
Das Absolute als das (aus sich) selbst-existierende Prinzip
Obwohl Shankaras theologische Methode in Negation gipfelt, beginnt sie mit Affirmation. Die Existenz des Absoluten wird zunächst provisorisch bestärkt in einer bedingten oder begrenzten Form, die dem Lernenden verständlich ist. Anschließend wird der Inhalt dieser vorläufigen Bestärkung durch nachfolgende Verneinung von allen begrenzenden Faktoren gereinigt. Die folgenden Abschnitte dieses Kapitels behandeln die drei höchsten Formen der provisorischen Affirmationen des Absoluten, die des Absoluten als erste Ursache, als selbst-leuchtendes Bewusstsein und als Seligkeit.
Wenn alle Unterschiede letztendlich illusorisch sind, dann ist es vom Standpunkt der höchsten Wahrheit eindeutig ungenau, vom Absoluten als dem Grund der Welt zu sprechen. Aber der Sucher ist gemäß Definition noch im Standpunkt der Ignoranz oder des Nichtwissens und für diesen zählen Unterschiede und die Welt und ihre Objekte sind real. Ihm muss erzählt werden, dass es hinter den veränderlichen Objekten der Welt ein Prinzip gibt, dass ewig ist und sich nicht verändert, das, von dem die vergänglichen Objekte hervorkommen und in das hinein sie sich schließlich wieder auflösen. Shankara sprach hierbei von einer „vorläufigen“ Definition, die der wahren Natur des zu Definierenden nicht entspräche.
„Bhrgu fragte: ‚Was ist die Definition des Absoluten ?’ und erhielt die folgende Antwort. Das von dem alle Wesen vom höchsten Gott (brahma) bis zum niedrigsten Grasbüschel ausgehen, das, wodurch sie Leben und Wachstum erhalten und das, wohin sie gehen und Identität annehmen, wenn die Zeit ihrer Auflösung gekommen ist, das, womit Wesen im wesentlichen identisch bleiben, selbst während sie vorwärts getrieben, aufrecht erhalten oder wieder weggenommen werden – das ist die Definition des Absoluten.“ (Taittiriya bhasya III,1)
„…Daher haben alle diese Geschöpfe, seien sie statisch oder beweglich, das Sein als ihren Grund, das Sein als ihre ursprüngliche Ursache.
Das Sein ist nicht nur ihre ursprüngliche Ursache. Selbst jetzt, während der zeit ihrer empirischen Existenz, haben sie ihre Basis im Sein. Denn solche Effekte wie Töpfe haben weder Existenz noch empirische Realität ohne irgendeine Basis in einem materiellen Grund wie Tonerde. Ebenso haben die Geschöpfe ihren ihre Basis in Sein, weil Sein ihr materieller Grund ist so wie Tonerde der materielle Grund von Tontöpfen ist. Sein ist ebenso das, was sie aufrecht erhält, in dem Sinne, dass es das ist, in das hinein sie sich schließlich wieder auflösen und was nach ihrer Zerstörung übrigbleibt.“ (Chandogya Upanishad bhasya VI, viii, 4)
„Jenes erhabene (Prinzip) Sein ‚nahm Gedankenform an’. Dies allein reicht aus um zu zeigen, dass das ‚pradhana’, das von den Shamkhyas angenommen wird, nicht der Grund der Welt sein kann. Denn sie nehmen an, das ‚pradhana’ sei unbewusst. Aber dies Prinzip ‚Sein’ ist bewusst, weil es fähig ist, ‚Gedankenform anzunehmen’.
Wie nun hat das ‚Sein’ Gedankenform angenommen ? Es dachte: ‚Lass mich wachsen und vervielfältigen.’ (Es war keine wirkliche Multiplizierung, sondern eine scheinbare,) so wie Tonerde sich ‚multipliziert’ indem er die Form verschiedener Objekte wie Tontöpfe annimmt oder wenn ein (irrtümlich falsch wahrgenommenes) Seil die Form einer Schlange oder von etwas ähnlichem annimmt, wobei letzteres eine bloße Vorstellung des Geistes ist.
Folgt daraus, dass alles, was wahrgenommen wird, nicht-Sein (asat) ist, wie ein Seil, wenn es irrtümlicherweise als Schlange erscheint ? Dies ist nicht unsere Position. Denn wir behaupten, dass es unveränderlich reales Sein ist, was wahrgenommen wird, es wird lediglich wahrgenommen unter der Bedingung der Unterschiedlichkeit innerhalb der Dualität und deswegen als verschieden von dem, was es wirklich ist.“ (Chandogya Upanishad bhasyaVI, ii, 3)
© 2022 Anke Beumann